JAMES ENSOR • 1860-1949

Das künstlerische Schaffen des am 13. April 1860 in Ostende (Belgien)geborenen James Ensor, der am 19. November 1949 fast neunzigjährig starb, gleicht einem kometenhaften Aufstieg, dem nach einem großartigen Start der Höhenflug und die Vollendung versagt blieben. Was nämlich den Namen Ensor für die Annalen der modernen Kunst wertvoll macht und ihm den Rang eines der großen Wegbereiter zuteil werden läßt, liegt fast ausschließlich begründet in dem Teil des Œuvre, der bis um die Jahrhundertwende, also in der ersten Hälfte des Lebens von Ensor entstand. Die ungewöhnliche Schöpferkraft und Erfindungsfülle, die bis dahin das Schaffen getragen hatte, versiegte mit dem Eintritt in das neue Jahrhundert gleichsam von einem Tag auf den anderen und machte einem nur noch wenig interessanten Gleichlauf Platz. Mag sein, daß die Intensität, mit der der junge Maler sich in seine Kunst hinein verbiß, die schöpferische Kraft des auch körperlich nicht sehr robusten Ensor frühzeitig verschlissen hat. Ensor, der schon als Kind eifrig zeichnete, trat mit siebzehn Jahren in der École des Beaux-Arts ein (1877), arbeitete hier für zwei Jahre mit wahrer Besessenheit, kehrte aber schon 1879 nach Ostende zurück, das er seitdem nie mehr verlassen hat. Zunächst dem Impressionismus verpflichtet, blieb er diesem bis in die neunziger Jahre verbunden, freilich nur, was seine Farbe angeht. Denn mehr und mehr wurde der Wille, die Welt des Lichts und des gefälligen Augenscheins darzustellen, verdrängt durch den Hang, einer Welt der Angstträume, des Schreckhaften und Bedrohlichen Ausdruck zu geben. Gespenstwesen, Totengerippe, bizarre Masken und Dämonen, hysterisch zusammengeballte Menschenmassen greifen in den Bildern Platz und steigern sie, die sich immer als bezaubernde Farbenräusche geben, in den Bereich des Visionären und Expressiven. Seit 1886 machte Ensor die Graphik zunehmend zum Mittel, sich seiner Angstgesichte zu entledigen. Und mag seine Kunst schon damals aus einer pathologischen Veranlagung herausgeboren worden sein, sie wurde doch eine bedeutsame Wegweisung vor allem für die deutschen Expressionisten, die nun mit Willen in die gleiche Richtung zielten, in die Ensor mehr aus dem Unbewußten ging.

Aus dem Buch:

Moderne Malerei: Von Renoir bis Buffet von Bodo Cichy, Juckerverlag: 1970, Seite 60

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